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«In 30 Jahren werden wir Jobs haben, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht.»

Das exponentielle Zeitalter und seine Folgen – Gründer, Autor, Newsletter-Produzent und Vater Azeem Azhar im Interview mit Globalance.

Für unterwegs das Interview als Podcast. Viel Spass beim Reinhören!

Zum Nachlesen das Interview hier in voller Länge.

Es verändert sich alles rasend schnell: Wann in der Geschichte gab es ähnliche Entwicklungen, an denen wir uns orientieren können? Oder ist das alles für die Menschen so neu, dass es keine historischen Anhaltspunkte gibt?
Neu ist tatsächlich die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen stattfinden. Auch in früheren Epochen gab es Phasen sich exponentiell entwickelnder Technologien, doch die Veränderungen erfolgten über einen wesentlich längeren Zeitraum. Heute sind die Veränderungen so schnell, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen. In fünf Jahren werden wir mit dem Smartphone schon wieder ganz andere Dinge tun als heute. Im Gegensatz dazu dauerte es Jahrzehnte, bis sich die Gutenberg-Druckpresse von Mainz aus in anderen europäischen Städten durchsetzte. Das ist der grosse Unterschied.

In welchem Bereich findet derzeit die schnellste Entwicklung statt?
Wahrscheinlich in der Biologie. Eine Genomsequenzierung kostete vor zwanzig Jahren eine Milliarde Dollar. Heute liegen die Kosten bei rund 200 Dollar. Diese Preisimplosion ist ein grosser Hebel, der viele neue Anwendungsgebiete eröffnet. Auch im Computing werden wir weiterhin viele interessante Entwicklungen sehen. Vielleicht sind sie nicht mehr so greifbar wie beim Smartphone, aber unter der Oberfläche schreiten die Entwicklungen schnell voran: Im Bereich des maschinellen Lernens, der künstlichen Intelligenz, steigt der Bedarf für mehr Computer-Power enorm stark an.

In der Mathematik sind exponentielle Funktionen unendlich. In der Welt der Physik gibt es Grenzen. Sehen Sie einen Punkt, an dem es plötzlich nicht mehr weiter geht, der Fortschritt quasi einfriert?
Das sehen wir zum Beispiel beim Verbrennungsmotor, der aufgrund thermodynamischer Grenzen nicht mehr wesentlich effizienter wird. Spannend ist, was geschieht, wenn Ingenieure und Ingenieurinnen an diese Limiten stossen. Meist bedeutet das nicht das Ende. Sie suchen nach neuen Wegen, diese Grenzen zu verschieben. Das sieht man in der Halbleiterindustrie: Seit mehreren Jahren sagen Physiker*innen nun schon, dass die Strukturen inzwischen so klein sind, dass sie nicht mehr zuverlässig arbeiten. Und dennoch hat es Industrie geschafft, dank neuer Verfahren und Designs bessere und schnellere Computer zu bauen.

Für die meisten Menschen bedeutet das exponentielle Zeitalter eine Überforderung. Was muss man tun, damit die Menschen nicht abgehängt werden? In Ihrem Buch sprechen Sie von einem exponentiellen Graben. Wie kann er überwunden werden?
Wichtig ist, dass Menschen mitreden können. Wir brauchen das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Wie erreichen wir das? Zum Beispiel indem wir uns auf politischer Ebene einbringen und beginnen, Fragen zu stellen. In den letzten 50 bis 100 Jahren haben wir den technologischen Fortschritt weitgehend den Ingenieur*innen überlassen. Die Gesellschaft muss lernen mitzubestimmen, welche Technologien sie will und welche nicht.

Sehen sie da schon Ansätze?
Ja, nehmen Sie den Klimawandel. Wir haben anerkannt, dass wir etwas gegen den Ausstoss von Treibhausgasen tun müssen. Es gibt inzwischen einen gesellschaftlichen Konsens, Technologien vorwärts zu treiben, die den CO2-Ausstoss reduzieren. Das zeigt, dass die Gesellschaft nicht machtlos ist.

Weitgehend machtlos sind wir gegen Technologien, die unsere Arbeit verändern. Was kommt auf uns zu?
Technologie hatte schon immer einen grossen Einfluss auf unsere Arbeitswelt. Meist nahm sie uns beschwerliche körperliche Arbeit ab, was eine gute Sache ist. Gleichzeitig muss man feststellen: Technologie hilft in erster Linie den Kapitalgeber*innen, also den Besitzenden und weniger den Arbeiter*innen. Als Westeuropa vor 200 Jahren industrialisiert wurde, entstand Wachstum, die Länder wurden reicher, aber die Löhne der Arbeiter*innen blieben gleich, weil die Gewinne zu den Kapitalgeber*innen flossen.

Werden die exponentiellen Technologien die Ungleichgewichte verstärken?
Es gibt einige Gründe, dies anzunehmen. Und das ist ein Problem. Klar, die Pandemie hat gezeigt, dass sich die Gewichte auch in die andere Richtung verschieben können. Überall dort, wo es Engpässe gibt, gehen die Löhne rauf.

Werden wir alle einmal von Robotern ersetzt werden?
Das glaube ich nicht, zumindest mittelfristig nicht. Es zeichnen sich interessante Szenarien ab: Die wettbewerbsfähigsten Unternehmen werden das Beste aus der Technologie herausholen, indem sie künstliche Intelligenz nutzen, in Automatisierung investieren und Roboter kaufen. Dadurch werden sie erfolgreicher, wachsen schneller und stellen mehr Leute ein. Unternehmen, die das nicht tun, werden Probleme bekommen, ihr Wachstum wird zurückgehen – sie werden Leute entlassen müssen. Wenn also Roboter Arbeitsplätze vernichten, dann geschieht das in Firmen, die von sehr erfolgreichen Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden.

So, wie das schon im Detailhandel geschehen ist?
Genau, viele Händler gingen bankrott, weil Firmen wie Amazon oder JD.com in China sehr stark auf Roboter und Automatisierung setzten, dadurch sehr schnell gewachsen sind und immer mehr Leute einstellen konnten.

Werden wir am Ende in einer Welt leben, in der es noch ein paar grosse Unternehmen, die Amazons und Googles, geben und alle anderen verschwinden werden?
Welches sind heute die wertvollsten Firmen? Es sind fast ausschliesslich Unternehmen, die von Netzwerkeffekten profitieren. Deren Dienstleistungen mit jedem zusätzlichen Kunden noch wertvoller für künftige Kunden werden. Und mit jeder neuen Kundin erweitert sich der Datenpool, der mit künstlicher Intelligenz durchdrungen werden kann. Das ist der Grund, weshalb die grossen Firmen immer noch grösser werden wollen. Diese Firmen stellen alte Gewissheiten auf den Kopf. Lange haben Ökonom*innen geglaubt, dass neue Wettbewerber niederschwellig in einen Markt eindringen können, was die bestehenden Unternehmen anspornt, noch innovativer zu werden und die Preise zu senken. In exponentiellen Märkten spielt diese Logik nicht mehr. Das ist ein Problem.

Doch es gibt es immer noch sehr viel kleine Unternehmen…
Klar, da gibt es Platz für viele kleine Firmen wie Bäckereien, Barber-Shops oder Automechaniker, das sind aber alles kleine Unternehmen. Diese Firmen sind Mieterinnen einer digitalen Plattform, die von grossen Firmen bereitgestellt wird. Die Grossen sind die Hausbesitzer, die die Regeln machen, die Gewinnmargen bestimmen und die Kundenströme definieren, entweder direkt oder indirekt. Das Risiko besteht, dass wir eine Art bizarres Sonnensystem erstellen, in dem dominante Firmen das alles überstrahlende Zentrum darstellen, während die kleinen Firmen wie Planeten darum herumfliegen.

Die Finanzindustrie scheint bisher weitgehend vor disruptiven Technologien verschont zu sein. Warum eigentlich?
Bis jetzt, muss man sagen. Denn wir werden starke Angreifer sehen. Meine Beobachtung ist, dass sich derzeit die hellsten Köpfe in der Informatik mit Decentralized Finance beschäftigen.

Sie meinen damit eine neue Finanzarchitektur, die ganz ohne Intermediäre wie Banken, Versicherungen oder Börsen auskommt, wo Vermögenswerte in der Blockchain abgebildet und ausgetauscht werden. Doch da stehen wir noch ganz am Anfang.
Ja, schon. Allerdings ist die Basistechnologie, die Blockchain, erst wenige Jahre alt. Daher braucht es Zeit, bis die Infrastruktur ausgebaut ist. Das Internet existiert seit 1969. Wenn man ehrlich ist, dauerte es bis 1999, bis es einen ernst zu nehmenden Effekt hatte. Im Vergleich dazu ist die Blockchain sehr jung.

Welche geopolitischen Folgen hat das exponentielle Zeitalter?
Wir leben in interessanten Zeiten. Es ist so, als ob die Geschichte neu beginnen würde (lacht). Sich exponentiell entwickelnde Technologien haben einen destabilisierenden Effekt. Wir sehen die Ansätze bereits jetzt. Der Handel könnte sich noch stärker zurückbilden, weil Länder dank neuer Technologien wie 3-D-Druck oder robotergestützter Nahrungsmittelproduktion wieder vermehrt selbst produzieren. Das heisst, dass sie kein Öl und keine Kohle mehr von einem Teil der Erde an den anderen liefern müsse. Wenn weniger gehandelt wird, fällt das Frieden stiftende Element des Handels weg.

Sie sind Vater von drei Kindern. Was denken Sie, wie sie in 30 Jahren leben, was sie arbeiten werden?
Gewisse körperliche Arbeiten werden verschwinden. Wir werden keine Kohle mehr fördern oder nach Öl bohren. Aber wir werden vielleicht CO2 in alte Ölquellen pumpen, um es dort einzulagern. In den nächsten 30 Jahren wird sich die Verlagerung physischer Arbeit in Jobs fortsetzen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Wir werden vermehrt Dinge tun, die wir heute als Dienstleistungsjobs bezeichnen. Je mehr körperliche Arbeiten von der Automatisierung übernommen werden, desto mehr wird es zu unserem natürlichen Tätigkeitsgebiet werden, mit anderen Menschen zu arbeiten.

Wenn Sie sich von einer Fee etwas wünschen könnten, was wäre es?
Ich würde mir neue öffentliche Güter wünschen, die für alle zugänglich sind. Güter wie der Suchindex von Google oder Daten dazu, wer mit wem bekannt ist, oder die Pendlerströme in Städten. Sie sollten für alle zugänglich sein wie ein öffentlicher Park oder saubere Luft. Wir müssen uns fragen, ob diese Güter von den Unternehmen in ein Gemeinwesen überführt werden sollten, um auf humanistischer Weise eine Zukunft darauf aufzubauen.


Azeem Azhar

Azeem Azhar hat mehrere Unternehmen gegründet und betreibt den sehr erfolgreichen Newsletter «Exponential View» mit rund 200’000 Abonnent*innen. Sein kürzlich erschienenes Buch «Exponential Age» beschäftigt sich mit den Folgen des rasanten technologischen Wandels auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Der Vater von drei Kindern studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft an der Oxford University.