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Das BIP – Time to say goodbye

Die Summe der Bruttoinlandprodukte (BIP) für alle Länder weltweit betrug im Vorjahr insgesamt 84.74 Billionen US-Dollar.

In diese Zahl fliesst unter anderem jede verkaufte Tomate, jeder Besuch bei der Kosmetikerin und jede Flugreise ein. Das BIP als Mass für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft wurde 1930 von Simon Smith Kuznets entwickelt und diente US-Präsident Franklin D. Roosevelt dazu, seinen «New Deal» (1933–1938) zu realisieren. Aber der Ökonom und Statistiker Kuznets mahnte schon damals, dass das BIP nicht wirklich den Wohlstand eines Volkes abbilde.

Politik und Gesellschaft klammern sich an ein Berechnungssystem, das mit seinen regelmässigen BIP-Prognosen für gute oder schlechte Stimmung in der Öffentlichkeit sorgt. Angesichts von Klimawandel, endlichen Ressourcen, Digitalisierung und sozialer Schere stellt sich aber immer mehr die Frage, ob Wachstum allein der Indikator für Wohlstand sein kann. Oder anders gesagt: Wenn Sie sich ehrenamtlich engagieren, hat das keine Auswirkung auf das BIP. Fahren Sie jedoch Ihr Auto zu Schrott, tragen Sie zu seinem Anstieg bei. Paradox, nicht wahr? Brauchen wir also ein neues Mass für neue Zeiten?

„Das Bruttoinlandprodukt misst alles – ausser dem, was das Leben lebenswert macht.“

Robert F. Kennedy (1925 – 1968)

Stellen Sie sich vor, Sie treten vor eine Jury, die Ihr Leben beurteilen soll. Stolz legen Sie los: Sie haben ihren Müll um 50 Prozent reduziert, eine neue Fremdsprache gelernt und viel Zeit mit Ihrer Oma verbracht. Die Jury winkt ab und will lieber Ihre Kontoauszüge sehen. Sind Ihre Bezüge gewachsen, wird anerkennend genickt. Sind sie geschrumpft, müssen Sie sich wieder hinten anstellen. Ungefähr so funktioniert das BIP. Finde den Fehler.

DAS BIP WERTSCHÄTZT DIE SUMME ALLER PRODUZIERTEN GÜTER UND DIENSTLEISTUNGEN EINER VOLKSWIRTSCHAFT.
Unternehmen, die einen Fluss mit Chemikalien verunreinigen, tragen ebenso zum Bruttoinlandprodukt bei wie eine Firma, die mit «guten» Bakterien den Einsatz von Pestiziden reduziert. Das Bruttoinlandprodukt wertschätzt also die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft. Damit dient es als Grundlage, um zum Beispiel Konjunkturprognosen abzugeben oder die Höhe von EU-Beiträgen festzusetzen.

DAS BIP WIRKT WIE AUS DER ZEIT GEFALLEN
Das BIP war früher durchaus einmal sinnvoll. Während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre gab es in den betroffenen Ländern kein nationales Berechnungssystem, mit dem man sich ein Bild über die Entwicklung der Wirtschaft machen konnte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg führten alle Staaten ein System ein, mit dem die Produktion gemessen werden konnte. Der König der Indikatoren: das Bruttoinlandprodukt. Aber es ist nun mal in der analogen Zeit gross geworden und ignoriert zukünftige Indikatoren für die Entwicklung eines Landes. Zum Beispiel das Internet. Wie berechnet man ein Onlinelexikon wie Wikipedia, bei dem Wissen gratis und jederzeit abrufbar ist? Und welcher Wert ist für Sharing-Plattformen oder Youtube angemessen? KritikerInnen, darunter renommierte ÖkonomInnen, PolitikerInnen und sogar NobelpreisträgerInnen, halten nicht viel vom BIP als Leitwert. So haben Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, und der französische Ökonom Jean-Paul Fitoussi im Auftrag der OECD vor einem Jahr ein inhaltsschweres Buch mit dem zukunftsweisenden Titel «Jenseits des BIP» vorgelegt. Das Buch gibt Anlass zur Hoffnung, und das Resümee der Wissenschaftler ist ebenso einfach wie einleuchtend: «Wenn wir die falschen Dinge messen, dann werden wir die falschen Dinge tun.»

DIE UN ETABLIERT DEN «INTERNATIONALEN TAG DES GLÜCKS»
Dass die meistbeachteste Kennzahl der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht ausreicht, um ein Volkswohlergehen zu messen, hat die UN schon 2012 begriffen. Seitdem wird jedes Jahr am 20. März der «Internationale Tag des Glücks» gefeiert. Damit will die UN Anerkennung gegenüber Staaten zum Ausdruck bringen, die Wohlstand auf eine Art und Weise messen, die über den materiellen Wohlstand hinausgeht. Sie will aber auch Politik und Wirtschaft für eine neue Umgangsweise im Streben nach Glück sensibilisieren. Und sie bewegen sich doch. Wirtschaft und sogar die Politik erkennen, dass wichtige Faktoren wie Diversifikation, Bildung, Umweltschutz, Digitalisierung, Gleichberechtigung und Gesundheit mit in die Rechnung gehören.

„Wir brauchen ein neues Paradigma für die Wirtschaft, welches die Gleichwertigkeit der drei Nachhaltigkeitssäulen beachtet. Wohlergehen in puncto Sozialem, Wirtschaft und Umwelt sind nicht voneinander zu trennen. Zusammen definieren sie das globale Brutto-Glück.“

Ban Ki-moon, UN-Generalsekretär (2007–2016)

Umdenken in der Politik

In Deutschland bereiten sich die Grünen vorsichtig auf das (Mit-)Regieren vor. Dazu gehört natürlich auch ein Wirtschaftsprogramm.
«Das Bruttoinlandprodukt ist blind für die ökologischen und sozialen Fragen», so die Parteivorsitzende Annalena Baerbock. Sie fordert einen «neuen Wohlstandsbegriff» – und den Abschied vom Bruttoinlandprodukt (BIP) als alleinigem Indikator für Leistungskraft und Wohlstand einer Volkswirtschaft.

Ähnliches – allerdings schon umgesetzt − konnte man kürzlich in Neuseeland erleben.
Angesichts einer der höchsten Suizidraten der Welt stellte die Premierministerin Jacinda Ardern Wohlbefinden über Wachstum. Erstmalig wurde ein «Wellbeing Budget» von fast 2.5 Mia. USD im Haushalt verabschiedet. Investiert wird in Gesundheitsangebote für psychisch Kranke und die Modernisierung von Krankenhäusern. Der Ausbau der staatlichen Bahn KiwiRail soll vorangetrieben werden, sowie Innovationen, die in eine CO2-arme Zukunft führen. Ausserdem müssen die Trinkwasserqualität verbessert und die Landwirtschaft für die Herausforderungen des Klimawandels fit gemacht werden.

„Wir messen den Erfolg unseres Landes ab sofort anders. Wir schauen nicht mehr bloss auf das Bruttoinlandprodukt, sondern darauf, wie wir das Wohlergehen unserer Bevölkerung verbessern, wie wir die Umwelt schützen und unsere Gemeinden stärken können.“

Grant Robertson, neuseeländischer Finanzminister

Bereits 1972 hatte der König von Bhutan das Glück zum nationalen Ziel ausgerufen. Auf dem «Glücksindex» stehen insgesamt neun Bereiche: vom psychologischen Wohlbefinden über ökologische Resilienz bis hin zur Bildung. Das «Bruttonationalglück» (Gross National Happiness, GNH) wird mit Hilfe von 33 Indikatoren gemessen und gibt der Politik mehr Aufschluss über das Wohlbefinden des Volkes als nur blosses Wachstum.

Umdenken in der Wirtschaft

Global 100-Most Sustainable Corporations in the World» bildet jedes Jahr ein weltweites Ranking unter 7’500 Unternehmen ab, die alle mehr als eine Milliarde US-Dollar Umsatz pro Jahr erzielen. Der Clou: CO2-Bilanz, Abfallreduzierung, Diversität bei Führungskräften, «saubere» Produkte und allgemeine Nachhaltigkeit fliessen in die Bewertung mit ein.

Rang eins geht dieses Jahr an die Chr. Hansen Holding, ein relativ unbekanntes Biotechnologieunternehmen aus Dänemark. Chr. Hansen entwickelt «gute Bakterien» für die Konservierung von Lebensmitteln, für den Pflanzenschutz und als Antibiotikaersatz in der Tierhaltung.

«Die Arbeit für eine bessere Welt ist tief in unserem Produktsortiment und unserer Unternehmenskultur verwurzelt. Dies gibt uns als Unternehmen ein überzeugendes Ziel, das eng mit Nachhaltigkeit verbunden ist und mit dem sich unsere MitarbeiterInnen vollkommen identifizieren können. Sie sind stolz darauf, für eine bedeutende Sache zu arbeiten und täglich einen Beitrag zu einem höheren Zweck zu leisten», so CEO Mauricio Graber.

«Die bessere Welt» von Chr. Hansen legt übrigens auch auf dem Finanzparkett einen besseren Auftritt hin. So hat sich der Aktienpreis in den letzten drei bis fünf Jahren im Vergleich zum DJ EURO STOXX überdurchschnittlich gut entwickelt.