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Eine Krise ist der Beginn von etwas Neuem

KRISEN – ES GIBT SO VIELE. Der Begriff taucht derzeit inflationär auf. Einige Krisen bedrohen uns alle, andere betreffen eher kleinere Kreise, manche nur einen Einzelnen.

Von Dr. Christoph-Friedrich von Braun

Krisen sind nicht leicht zu handhaben. Sie betreffen stets komplexe Systeme (Unternehmen, Familien, Verkehrsnetze, Wirtschaftsstrukturen, Wertehierarchien, Rüstungsspiralen). Einfache Systeme haben keine Krisen. Mein Autoradio z. B. oder mein linkes Knie hatten noch nie eine Krise, gelegentlich aber Störungen. Krisen weisen vier Hauptmerkmale auf: Sie sind unerwartet (Enron), schaffen Ungewissheit (Verkehrskollaps), stellen eine ernst zu nehmende Bedrohung dar (Lehman Brothers) und signalisieren, dass sich das bestehende System (CO2-Gehalt der Atmosphäre) seinen Belastungsgrenzen nähert. Auch wenn es Krisen natürlichen Ursprungs gibt (Luftverkehr nach Vulkan- Ausbruch), die weitaus meisten sind menschengemacht.

Warum eine Krise entsteht

Krisen entstehen dann, wenn schwache Vorzeichen nicht gesehen oder falsch interpretiert werden. Der eigentliche Anlass kann höchst unscheinbar sein. Der Arabische Frühling z. B. beruhte auf der Beschlagnahme des Kiosks eines tunesischen Markthändlers durch einen Polizisten. Oder es kommt zu falschen bzw. gar keinen Reaktionen auf die Vorzeichen. Klassisches Beispiel: die jüngere europäische, insbesondere deutsche Sicht auf Russland als vertrauenswürdigen Energielieferanten.

Trotz ihrer Komplexität sind wir Krisen nicht hilflos ausgeliefert. Grundsätzlich lassen sich die allermeisten durch richtiges Verhalten meistern. Man spricht von Krisenintervention, insbesondere in psychologischen Notsituationen (Verlust eines Angehörigen, Gewalterfahrungen), aber auch in zahlreichen anderen Bereichen (NATO Response Force). Die Intervention zielt auf rasches Auffangen und unterscheidet sich von meist langfristiger Therapie. Im Einzelfall ist es oft schwierig, das Richtige zu tun. Man kann sich falsch verhalten, in Panik ausbrechen oder so gar in Untätigkeit erstarren. Hilflosigkeit ist an der Tagesordnung. Für die Krisenbetroffenen gibt es drei denkbare Abläufe:

  1. Man wendet die Katastrophe durch erfolgreiche Lösung der Krise ab (ein gefährdeter Deich wird befestigt und/oder erhöht).
  2. Man scheitert in seinen Bemühungen (Premierminister Chamberlains vergeblicher Versuch zur Abwendung des Weltkriegs 1938: «Peace for our time») und die Katastrophe tritt ein.
  3. Man tut gar nichts («Büsset! Der Untergang ist nah.») oder kann nichts tun (bevorstehender Asteroideneinschlag) und wappnet sich, so gut es geht, für die Katastrophe und die Zeit danach (Hamsterkäufe, Flucht, Resignation, Fatalismus, Zweckoptimismus).

Zu welcher Intervention man sich entschliesst bzw. entschliessen kann, hängt von den Umständen ab. Ein wichtiges Merkmal aller Krisen ist die Geschwindigkeit ihres Verlaufs. Manch drohende Katastrophe hat einen langen Vorlauf, der Jahrzehnte umfassen kann (Klimakollaps) und damit Zeit für Korrekturen lässt. Wichtig ist vor allem, diese Zeit zu nutzen. Andere Krisen lassen nur wenige Monate (Hungersnot) für eine Lösung. Wieder andere messen sich in Zehntelsekunden, sodass man bestenfalls instinktiv reagieren kann (der schon lange blank gefahrene Reifen platzt in einer Kurve bei 90 km/h). Zeit zum Überlegen bleibt nicht.

You can’t prepare for everything, but you have to be prepared for anything.

(unbekannt)

Manche Krisen haben einen langen Vorlauf

Eine erfolgreiche Intervention hält am Bestehenden fest und stärkt es eher, als es zu ändern. Oft kann das ausreichen und gut gehen, je nach Lage der Dinge. Es ist ausserdem akzeptabler, weil man sich zwar anpassen kann (zusätzliche Mitarbeitende, Budgetkürzungen, Sparappelle, Subventionen, Produktverbesserungen …), aber nichts grundsätzlich infrage stellen muss. Fast alle Covid-Massnahmen der westlichen Regierungen z. B. zielten auf sozio-ökonomische Bestandswahrung, d. h. das gewohnte Leben der Bürger*innen, der Wirtschaft und des Landes, so gut es ging, weiterzuführen. Sonderhilfen, Appelle, Impfungen und Verhaltensrichtlinien sollten zumindest den Schein von Normalität aufrechterhalten. Das kommt den instinktiven Präferenzen der meisten Menschen entgegen. Nur die allerwenigsten mögen grundsätzliche Veränderungen. Was die vorhandenen Strukturen, Freiheiten, Grundannahmen und Werte angeht, soll alles beim Alten bleiben.

Wenn schon Änderungen, dann bitte nur im engen Rahmen

Eine grosse Hürde für jedes Krisenmanagement ist der Widerstand der absehbar Betroffenen gegen vorbeugende Massnahmen. Schutzaktionen werden oft verweigert, obwohl deren Reichweite weit weniger schmerzhaft ist, als wenn die Katastrophe freie Bahn hätte («Keine neue Hochspannungsleitung über meinem Grundstück!»).

Gibt es eine Kehrseite der Krise?

Positiv muss man anmerken, dass eine Krise auch neuen Freiraum schafft. Ein allmählicher Verfall tut dies nur sehr selten. Erst die Krise, das drohende Desaster, der Zusammenbruch des Bekannten und Etablierten gestattet grundsätzliche Überlegungen (drohender Bankrott, Invasion der Ukraine, die entscheidende Schulprüfung) und öffnet den Blick für neue Möglichkeiten. Sie setzt ungeheure Kräfte frei, erlöst den Kopf und das Handeln von Überholtem und Festgefahrenem, erlaubt es, das Alte zu den Akten zu legen und stattdessen Neues und Fortschrittlicheres in Angriff zu nehmen. Erst die Covid-19-Pandemie z. B. hat den Blick für neue Formen von Arbeitsorganisation geöffnet. Von allein geschehen solche Wandlungen nur selten.

In der Tat lässt sich spekulieren, ob nicht ein grosser Teil des menschlichen Fortschritts auf den periodischen Eintritt solcher «befreienden» Krisen zurückzuführen ist und auch weiterhin sein wird. Es kann gut sein, dass wir ohne die Krisen, die unsere steinzeitlichen Vorfahren getroffen haben, niemals unsere Höhlen verlassen hätten. Vielleicht wären wir ohne sie (Eiszeiten) nicht einmal in die Höhlen hineingekommen. Die Frage, ob man mit Krisen leben muss, ist daher leicht zu beantworten: Ja, wir müssen. Wir können gar nicht ohne sie.

DR. CHRISTOPH-FRIEDRICH VON BRAUN
VERWALTUNGSRAT DER GLOBALANCE BANK AG

Welche Technologien braucht die Gesellschaft? Was brauchen Unternehmen? Fragen, mit denen sich Dr. Christoph-Friedrich von Braun täglich auseinandersetzt – als Berater für Unternehmen, Organisationen und Regierungen auf dem Gebiet des Innovations-, Forschungs- und Technologiemanagements sowie als Lehrbeauftragter diverser Universitäten, u. a. des MIT in Boston. Der Vater von sieben Kindern ist Autor verschiedener Publikationen wie «Der Innovationskrieg».  

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