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Wirtschaftsweichen

Dr. Marcel V. Lähn, CIO der FERI AG, im Interview mit Globalance über Stagflation, künstliche Intelligenz und Deutschlands schwindende Wettbewerbsfähigkeit.

Dr. Marcel V. Lähn

Dr. Marcel V. Lähn ist Vorstand und Chief Investment Officer (CIO) der FERI AG in Bad Homburg und verantwortet die Investmentstrategie und Anlageaktivitäten der FERI Gruppe. Vor seinem Eintritt bei FERI war er bei der US-amerikanischen Merchant Bank BDT & Company als Managing Director und Chief Operating Officer (COO) in Frankfurt am Main tätig. Davor verantwortete Dr. Lähn als Chief Investment Officer (CIO) die Investmentstrategie der BHF-BANK AG in Frankfurt am Main und führte als Generalbevollmächtigter das Privatbankgeschäft der Bank.

Interview

Die Inflation sinkt, die Wirtschaft zeigt sich bisher resilient – welches Wirtschaftsszenario sehen Sie im zweiten Halbjahr 2023 auf uns zukommen?

Das globale Stagflationsszenario, das uns schon seit dem letzten Jahr begleitet, ist weit fortgeschritten, aber nach wie vor intakt. Wir befinden uns somit weltweit in einer Situation schwachen Wirtschaftswachstums, gepaart mit anhaltender, wenngleich nachlassender Inflation. Die verantwortlichen Zentralbanken reagieren mit einer teilweise länger als von den Märkten antizipierten fortgesetzten Straffung der Geldpolitik. Die Folge ist ein noch immer positiver, aber abflachender Zinsanstiegstrend.

Auf regionaler Ebene bedeutet dies die Erwartung eines noch nicht abgeschlossenen Zinserhöhungszyklus der Fed in den USA, was angesichts einer bereits länger bestehenden inversen Zinskurve und drohender Gewinnrevisionen der Unternehmen die Risiken für das Verfehlen eines Soft Landing verstärkt.

In Europa ist trotz drohender Rezessionsrisiken ebenfalls von einer Fortsetzung des Zinserhöhungszyklus durch die EZB auszugehen. China fällt als Motor des globalen Wirtschaftswachstums nach Reopening der Ökonomie im Zuge des Endes der Corona-Pandemie wegen enttäuschender Wachstumszahlen weitgehend aus. Das Resultat ist ein insgesamt abflachendes weltwirtschaftliches Wachstum mit teilweise negativer Entwicklung in einzelnen Regionen und einer zunehmenden Wachstumsverlangsamung.

Gleichzeitig ist ein Fortbestehen geopolitischer Risiken ebenso zu beobachten wie eine fortschreitende Deglobalisierung. Diese kann exemplarisch an zunehmenden gegenseitigen Import- und Exportbeschränkungen strategisch relevanter Kernelemente für Zukunftstechnologien der sich gegenüberstehenden Supermächte China und USA abgelesen werden. Im Zusammenspiel dieser Faktoren verbleibt ein Weltbild mit anhaltender, aber sinkender Inflation und noch immer vorhandenen Rezessionsrisiken auch für das 2. Halbjahr 2023. Gelingt das Soft Landing in den USA nicht, können temporär versetzt mögliche Spillover-Effekte verlangsamten oder negativen Wachstums die weltwirtschaftlichen Perspektiven weiter eintrüben.

Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund die grössten Risiken, wo die grössten Chancen für Anleger und Anlegerinnen? Wie sollte sich diese positionieren?

In dem gerade beschriebenen Szenario besteht das grösste Risiko für Anleger kurzfristig bei Aktieninvestments. Dabei bleiben Aktien längerfristig sehr vielversprechend. Sollte ein Soft Landing in den USA gelingen und die weitere Eskalation geopolitischer Konflikte ausbleiben, dürften die gestiegenen Bewertungen der Aktienmärkte des ersten Halbjahrs 2023 auch eine Rechtfertigung erfahren. Vor dem Hintergrund der aktuell noch existierenden Risiken erscheint allerdings eine defensive Ausrichtung bei Aktieninvestments angeraten.

Renteninvestments haben aufgrund der gestiegenen Zinsen an Attraktivität gewonnen. Allerdings sollte beachtet werden, dass trotz gestiegener Nominalverzinsung viele Renteninvestments noch keine positive Realverzinsung aufweisen. Der Fokus im Rentensegment sollte demzufolge neben Staatsanleihen auf Unternehmen erstklassiger Bonität liegen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass ein Investor in einem von signifikanter Unsicherheit gekennzeichneten Szenario wie dem aktuellen Marktumfeld mit einem breit über verschiedene Anlageklassen aufgesetzten Portfolio und aktivem Risikomanagement Erfolg versprechend aufgestellt ist. Dabei sollten neben den traditionellen Investments Geld, Renten und Aktien auch alternative Investments wie Rohstoffe und Edelmetalle, Hedgefonds und Private Markets sowie Investitionen in die Anlageklasse Volatilität ins Portfolio aufgenommen werden.

Lassen Sie uns über das Thema «KI» sprechen, welches Anlegerfantasien aktuell beflügelt – wie beurteilen Sie dieses aus Makrosicht? Welche Regionen, welche Sektoren haben die Nase vorn? Wer sind die Verlierer?

Das Thema «Künstliche Intelligenz» ist vielschichtig und spannend – und hat das Potenzial, nicht nur die Unternehmenswelt, sondern auch das private Leben generell und somit auch die gesamte Gesellschaft nachhaltig zu verändern.

Dabei liegt die Kernkompetenz für diese neue Technologie bereits heute in den USA und China und beide Regionen werden – begleitet von einigen wenigen regionalen Ausnahmen, zu denen Grossbritannien, Kanada und Israel zählen – auch künftig das Zentrum der Weiterentwicklung bilden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen KI im Kontext privater Unternehmen und staatlicher Institutionen zu unterscheiden. Während die westliche Welt KI insbesondere anhand der Bewertung privatfinanzierter Start-ups oder börsengehandelter Unternehmen beurteilt, ist in China der Staat ein wichtiger Treiber der Weiterentwicklung der Technologie.

In der westlichen Hemisphäre ist das Silicon Valley mit dem dort beheimateten Start-up OpenAI (ChatGPT) aktuell das Epizentrum der KI-Technologie. Vielfach werden KI-Systeme dabei durch leistungsstarke Computerchips angetrieben, beispielsweise durch die des ebenfalls in Kalifornien beheimateten Herstellers NVIDIA. Unternehmen, die entweder direkt KI-Systeme entwickeln oder wie im Beispiel von NVIDIA die notwendige Infrastruktur hierfür bereitstellen, waren die grossen Gewinner in diesem Jahr. Sie hatten einen erheblichen Anteil an der starken Marktentwicklung im Technologiesektor im 1. Halbjahr, das der Nasdaq mit einem Rekordzuwachs von über 30 % beendet hat.

Für Anleger stellt sich somit die Frage, wie man am besten von diesem Megatrend künstlicher Intelligenz profitieren kann und ob angesichts der bereits gestiegenen Bewertungen der relevanten Unternehmen und des offensichtlich eingesetzten Hypes um das Thema aktuell der richtige Zeitpunkt für Investitionen ist oder ob es nicht sinnvoll erscheint, eine Beruhigung abzuwarten.

Generell gilt es dabei, zwischen zwei Arten von Unternehmen zu unterscheiden: solchen, die entweder direkt mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz verbunden sind bzw. deren Geschäftsmodell darauf ausgerichtet ist, von dieser Entwicklung zu profitieren – und anderen, die durch den Einsatz künstlicher Intelligenz in ihrer Existenz bedroht sind.

Man liest überall von massiven Effizienzgewinnen dank dieser neuen Technologie. Zudem können bezahlte Dienstleistungen neu gratis bezogen werden – stehen wir vor einem Deflationsschock und Stellenabbau an breiter Front? Mit welchen Auswirkungen?

Die Effizienzgewinne dieser neuen Technologie sind unstrittig. Inwiefern hieraus ein Deflationsschock mit Stellenabbau bevorsteht und wann dieser eintritt, ist schwer zu prognostizieren. Ganz im Sinne Schumpeters schöpferischer Zerstörung führt künstliche Intelligenz als Innovation zur nachhaltigen Veränderung bisheriger Geschäftsmodelle, Prozesse und Verhaltensmuster. Im Zuge dieses Transformationsprozesses werden neue Geschäftsmodelle und somit auch Arbeitsplätze entstehen und bisherige entfallen. Der zeitliche Pfad und die finalen Auswirkungen lassen sich nicht exakt vorhersagen. Hierbei wird auch eine entscheidende Rolle spielen, welchen Stellenwert der Ethik eingeräumt wird.

Um sich dem Thema zumindest etwas zu nähern, sei der Vergleich zum autonomen Fahren bemüht. Vor vielen Jahren als Megatrend mit negativen Konsequenzen bspw. für Lkw-Fahrer und auch Automobilhersteller ausgerufen, haben viele Technologieunternehmen in der jüngeren Vergangenheit aufgrund der Komplexität der Umsetzung des Themas ihre Ambitionen zurückgefahren, mit der Konsequenz, dass der damals prognostizierte Anstieg der Arbeitslosigkeit auf globaler Ebene trotz der bislang unstrittig erzielten Fortschritte gerade in den USA und China in diesem Segment bis heute weitgehend ausgeblieben ist.

Künstliche Intelligenz wird unseren beruflichen und privaten Alltag in den kommenden Jahren signifikant verändern und wird sich mit zunehmender Geschwindigkeit weiterentwickeln. Ob und vor allem wann sich hieraus ein Deflationsschock mit einem Stellenabbau materialisiert, lässt sich nicht ohne Weiteres vorhersagen. Allerdings gibt es einen fortschreitenden Prozess der Veränderung, der sich in der Zukunft noch beschleunigen wird, also ein exponentielles Wachstum der Verbreitung der Technologie mit den daraus resultierenden Konsequenzen.

Auf Unternehmensseite muss sich deshalb jeder Verantwortliche mit der Frage auseinandersetzen, was diese Veränderung für das eigene Geschäftsmodell und die eigene Zukunftsfähigkeit bedeutet und wie eine erfolgreiche Anpassung an die sich schnell verändernden Rahmenbedingungen gelingen kann.

Für Investoren verbleibt die Frage der Selektion der Unternehmen, die Treiber dieser Entwicklung sind und somit von der künstlichen Intelligenz profitieren – und wie man unter Beachtung von Bewertungsrelationen bei diesen Geschäftsmodellen investiert.

Deutschland verliert gegenwärtig gemäss internationalen Analysen wie dem IMD-Ranking stark an Wettbewerbsfähigkeit. Wie beurteilen Sie die Situation: Kann Deutschland die Position als führende Industrienation halten oder ist der internationale Abstieg im Vergleich zu China und anderen Industrienationen nicht mehr aufzuhalten?

Ein Denken in diesen absoluten Termini wie «nicht mehr aufzuhalten» gefällt mir nicht. Sicherlich ist es für Deutschland sehr schwierig, seine globale Position als eine führende Industrienation zu behaupten. Und unstrittig ist, dass wir in vielen Schlüsselindustrien der Zukunft keine global führenden Unternehmen haben. Vor diesem Hintergrund sind wir im Vergleich zu den USA und auch China bereits in vielen Bereichen ins Hintertreffen geraten. Generell ist aber die Frage zu beantworten, warum dies so ist und ob in Deutschland der ordnungspolitische Rahmen zur Förderung von Technologie und Innovation richtig gesetzt wird.

Nehmen wir beispielsweise junge Unternehmen wie BioNTech im Zuge der Corona-Krise oder ganz aktuell DeepL bzw. Alep Alpha im Kontext künstlicher Intelligenz. Alle haben ein unglaubliches Innovationspotenzial und damit verdeutlicht, dass auch von Deutschland aus marktführende Innovation in Zukunftsmärkten mit globaler Reichweite möglich ist. Hier müssen wir schauen, wie wir einerseits diesen Unternehmen und ihren Gründern langfristige Wachstumsperspektiven in Deutschland ermöglichen können. Andererseits sollten wir die Erfolgsfaktoren dieser Unternehmen auch für zukünftige Gründer systematisieren und die Bereitstellung von Wagniskapital in der Breite weiter fördern.

Auch der Bereich der digitalen Assets und hierbei insbesondere der Kryptowährungen hat strategische Relevanz. Neben der Tatsache, dass Deutschland im internationalen Vergleich bereits eine gewisse Bedeutung bei Ethereum erzielen konnte, kann auch hier die Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein – sowohl im Kontext der Besteuerung Blockchain-basierter Investments als auch hinsichtlich der Sicherheit für den Investor bei der Verwaltung und Verwahrung seiner Vermögenswerte.

Letzteres wurde gerade im Fall der Kryptobanken in den USA im März dieses Jahres für Anleger ersichtlich. Dabei bedeutet ordnungspolitischer Rahmen aber eben nicht Überregulierung, sondern die Bereitstellung klarer Spielregeln, innerhalb derer die wirtschaftliche Aktivität stattfindet. Und neben den politischen Rahmenbedingungen werden Bildung und Innovation gerade auch im Kontext der oben besprochenen künstlichen Intelligenz die Faktoren sein, die langfristiges Wachstum in einer Volkswirtschaft schaffen und erhalten können – mit einem klaren Fokus auf die jüngere Generation, die Treiberin dieser Innovation ist.