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«Venedig braucht mehr Mut, nicht mehr Tourismus»

«Venedig ist überfordert», sagt Cristina Gregorin. Die Gründerin von Slow Venice spricht im Interview darüber, warum fünf Euro Eintritt nichts lösen, und was es jetzt braucht, um die Stadt für Menschen wieder lebenswert zu machen.

Cristina Gregorin
Cristina Gregorin ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und zertifizierte Stadtführerin. Seit 35 Jahren vermittelt sie die Geschichte, Kultur und Gegenwart Venedigs. Mit ihrem Projekt Slow Venice zeigt sie Besucherinnen und Besuchern die Lagunenstadt abseits der Touristenströme.
Was bedeutet für Sie nachhaltiges Reisen?
Nachhaltig reisen heisst nicht nur, klimabewusst unterwegs zu sein, sondern vor allem achtsam und respektvoll. Einen Ort verstehen, statt ihn zu konsumieren. Es geht auch darum, seinen Rhythmus zu spüren – und Verantwortung zu übernehmen, statt sich einfach treiben zu lassen.
Ist Venedig noch zu retten?
Für Venedig könnte es zu spät sein. Die Stadt ist völlig überlastet. Statt der früher empfohlenen 20’000 strömen heute an Spitzentagen bis zu 130’000 Menschen in die Stadt – und im Durchschnitt sind es immer noch über 70’000. Die seit einem Jahr erhobene Eintrittsgebühr von fünf Euro ändert daran nichts. Im Gegenteil: Sie degradieren Venedig zum Freizeitpark und vertiefen die Kluft zwischen Gästen und Stadtbewohnenden. Wer zahlt, glaubt oft, sich alles erlauben zu dürfen. Viele Viertel haben ihre Bewohnerinnen und Bewohner verloren. Die Altstadt wirkt heute wie eine endlose Cafeteria unter freiem Himmel. Hoffnung sehe ich eher für kleinere Orte, die mit klaren Regeln und politischem Mut noch gegensteuern können.
Was war der grösste Fehler der letzten Jahre?
Die fehlende Regulierung der Plattformökonomie. Airbnb hat ganze Viertel verändert, ohne Rücksicht auf das Leben der Menschen vor Ort. Gleichzeitig hat die Stadt den Massentourismus immer weiter gefördert – planlos und ohne klare Leitplanken.
Was ist jetzt am dringendsten nötig?
Begrenzung, Mitsprache und echte Alternativen. Die Stadtregierung braucht mehr Mut, den Tourismus aktiv zu steuern, so wie es andere Städte längst tun: Barcelona etwa reguliert Airbnb und Kreuzfahrtschiffe streng, Amsterdam hat Obergrenzen für Besucherzahlen eingeführt.
In Venedig brauchen wir verbindliche Regeln, die Beteiligung der Bevölkerung und Investitionen in das, was eine Stadt lebendig hält: Bildung, Gesundheitsversorgung, Räume für junge Menschen und vor allem Arbeitsplätze ausserhalb des Tourismus. Nur dann bleibt die Stadt auch für ihre Bewohnerinnen und Bewohner lebenswert.

Was unterscheidet Slow Venice von anderen Tourenanbietern?
Ich gehe ich mit kleinen Gruppen zu Fuss, zeige verborgene Wege und erzähle Geschichten, die verbinden. Wenn die Menschen spüren, dass mir dieser Ort am Herzen liegt, verändert das oft auch ihre Haltung. Es geht nicht um Konsum, sondern um Beziehungen. Und ich verzichte bewusst auf Motorboote, da deren Wellen täglich die Fundamente der Stadt beschädigen.

Facts & Figures
Venedig erlebt jährlich etwa 30 Millionen Besucherinnen und Besucher, bei nur rund 50’000 Menschen, die in der Altstadt leben.
Anzahl Stadtführerinnen und Stadtführer:
1990: 1’200
2025: 6’000 (viele ohne fundierte Ausbildung)

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